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Wie kann die soziale Inklusion von Migranten und Flüchtlingen in Europa verbessert werden? Mit Dialog!

19 Juli 2021

Das von KAICIID unterstützte Netzwerk für Dialog befasst sich mit der sozialen Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten in Europa und hat diesbezüglich drei Grundsatzpapiere herausgegeben. Dr. Amjad Mohamed Saleem, Mitglied des Netzwerks und Experte für Schutz, Inklusion und Zusammenarbeit beim Internationalen Roten Kreuz, spricht mit Dr. Angelika Aroni, einer griechischen Politikerin im Ministerium für Migration und Asyl und erfahrenen Expertin für Flüchtlingshilfe, über die Bedeutung von Dialog.

 

Welche Rolle spielt das Bildungssystem bei der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten in Europa?

Dr. Amjad Mohamed Saleem: Das Bildungssystem ist eine der ersten Gelegenheiten für junge Flüchtlinge und Migrantenkinder, um sich in das System des Aufnahmelandes zu integrieren. Bildung ist oft die erste Möglichkeit für sie, wenn es darum geht, sich auf ihr neues Leben einzustellen.

Kinder sind oft Brückenbauer zwischen den Aufnahme- und den Migrantengemeinschaften. Ich bin der Meinung, dass Interaktionen im Klassenzimmer Migrantenkindern - und ihren Eltern – helfen, sich auf ein neues Land einzulassen und einzugewöhnen.

Dr. Angelika Aroni: Bildung gibt Migrantinnen und Migranten Hoffnung auf eine bessere, erfolgreiche Zukunft. In Griechenland und in vielen anderen europäischen Ländern wissen wir das kulturelle Kapital, das sie mitbringen, nicht zu schätzen.

Wir reden immer wieder von inklusiver Bildung und integrativen Lehrkräften, wie man Schulen inklusiver machen kann, und wie man die interkulturelle Bildung der Lehrkräfte fördern kann. Wir müssen aber auch auf der Makroebene arbeiten und sehen, wie wir die Identität und Kultur der Migrantinnen und Migranten in unseren Lehrplan einbauen können. Griechische Schulkinder werden zum Beispiel nicht über arabische Dichter oder afrikanische Künstler unterrichtet.

Es ist begrüßenswert, dass ein Diskurs darüber entstanden ist, wie man Bildung inklusiver gestalten kann und wie man Flüchtlings- und Migrantenkinder in unsere Schulsysteme integrieren kann. Aber wie können wir ihre Kultur in unser Gesellschaftssystem integrieren? Das ist ein ganz anderer Diskurs, den wir noch nicht eröffnet haben. 

 

Wie kann Vertrauen aufgebaut werden, um die soziale Inklusion von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten zu fördern?

Saleem: Um Vertrauen aufzubauen, um eine Beziehung zu jemandem aufzubauen, muss man Verantwortung übernehmen und auf die Person zugehen.

Wir wissen, dass die meisten Menschen, die eine negative Einstellung gegenüber Flüchtlingen haben, noch nie einen getroffen haben. Sie neigen dazu, eine negative Einstellung gegenüber jedem zu haben, den sie nicht kennen, egal ob es jemand mit Migrationshintergrund oder jemand aus der muslimischen Gemeinschaft oder woher auch immer ist. Sie wissen nur, was sie in den Medien gesehen haben.

Aber sobald sie einen sicheren Raum schaffen, um diese andere Person zu treffen, wird diese zu einem Menschen für sie, und das Misstrauen und die falsche Wahrnehmung nehmen ab. Dialog ist also entscheidend für den Aufbau von Vertrauen. Das kann etwas Einfaches sein, wie eine Tasse Tee zu trinken, wie man es in Großbritannien macht. Essen ist auch großartig, um Menschen zusammenzubringen – jeder liebt es zu essen, richtig?

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Wir müssen daher mehr Räume und Gelegenheiten zu schaffen, damit Menschen zusammenkommen, sei es zu sozialen Themen, sei es zu kulturellen Themen, sei es etwas Einfaches wie das gemeinsame Streichen von Häusern oder andere Aktivitäten, die Gemeinschaften zusammenbringen.

Aroni: Wenn wir Vertrauen aufbauen und mit Flüchtlingsgemeinschaften arbeiten wollen, müssen wir beachten, dass sie vielfach das Vertrauen in die Menschheit verloren haben, weil sie schon so oft von Menschen betrogen wurden.

Vor kurzem war ich in einem Flüchtlingszentrum, wo wir mit unbegleiteten Minderjährigen arbeiten. Da war ein Mädchen aus Somalia, das mithilfe eines Dolmetschers sagte: ‚Warum sollte ich Ihnen zuhören? Warum sollte ich mit Ihnen reden? Ich habe meine Geschichte schon hundertmal erzählt.‘ Ich war sprachlos. Das ist das Problem des Vertrauens, das wir lösen müssen.

 

Wie können negative Narrative rund um Migration durch interkulturellen und interreligiösen Dialog verändert werden?

Saleem:

Eine große Herausforderung ist es, wenn die Aufnahmegemeinschaften Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge als Bedrohung für knappe Ressourcen wie Arbeitsplätze, Schulplätze und ähnliches betrachten. So fangen diese negativen Narrative oft an: 'Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg'.

Die gute Nachricht ist, dass es Beispiele für das Meistern dieser Herausforderung gibt. Ein Dorf in Italien hat zum Beispiel eine Gruppe junger Flüchtlinge aufgenommen. Anfangs gab es eine Menge Widerstand. Aber weil viele junge Leute aus dem Ort in die nahgelegenen Städte abgewandert waren, gab es viele ältere Menschen, die Unterstützung brauchten. Unterstützung, die die jungen Flüchtlinge bieten konnten.

Sie halfen beim Einkaufen und anderen alltäglichen Aufgaben, es wurde eine symbiotische Beziehung. Infolgedessen änderte sich das Bild in der angestammten Bevölkerung. Interreligiöser und interkultureller Dialog kann helfen, einen sicheren Raum für diese Art von Interaktion zu schaffen.

Aroni: Negative Narrative rund um Migranten und Flüchtlinge rühren oft daher, dass diesen Gemeinschaften keine eigene Stimme zugestanden wird. Ihre Geschichten werden von anderen Menschen erzählt, nicht von ihnen selbst. Ich habe kürzlich von einer Gruppe jugendlicher Flüchtlinge gelesen, die eine Art Journalistenteam gebildet haben, um dieses Problem zu thematisieren. Sie schreiben über ihr eigenes Leben, ihre eigenen Erfahrungen. Wir brauchen mehr davon, Migrantinnen und Migranten, die ein Recht auf eine eigene Stimme haben, damit das Narrativ von den Menschen, die persönlich betroffen sind, verändert werden kann. 

  

Warum ist die Zusammenarbeit von Politikerinnen und Politikern mit Akteurinnen und Akteuren an der Basis so wichtig? Und wie kann diese verbessert werden?

Saleem: Aktivistinnen und Aktivisten der Basis stehen an vorderster Front. Sie sind diejenigen, die sich tagtäglich mit diesen Themen beschäftigen, sie kennen die Herausforderungen, sie kennen die Möglichkeiten. Das fehlt politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern manchmal, sie sind nicht immer am Prozess beteiligt. Das ist ein Problem, denn wir brauchen eine Politik, die von gelebter Erfahrung geprägt ist, von Menschen, die die Herausforderungen richtig verstehen.

Schauen wir uns nur die Pandemie an. Es ist den Basisorganisationen zu verdanken, unabhängig davon, ob sie sich um Flüchtlinge, ältere Menschen oder andere gefährdete Gruppen kümmern, dass die Leistungen aufrechterhalten und Leben gerettet werden konnten.

Aroni:

Basisorganisationen sind kommunizierende Gefäße für die Politikgestaltung; man kann das eine nicht ohne das andere haben. Die Politik legt Gesetze, den rechtlichen sowie den politischen Rahmen fest. Es sind dann Organisationen an der Basis, die diese Politiken umsetzen und in die Praxis einführen.

Wenn die Basis nicht mitmacht, bleibt alles auf dem Papier: Gesetze, Konventionen und all der Rest. Und umgekehrt, wenn die Personen auf politischer Ebene, die sich mit den Bedürfnissen und Problemen befassen, nicht dabei sind, gibt es keinen geeigneten rechtlichen und politischen Rahmen.

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Warum brauchen wir das Netzwerk für Dialog und das Europäische Forum für politischen Dialog?

Saleem: Ich bin mit dem Netzwerk für Dialog von Anfang an verbunden. Ich habe gesehen, wie es entstanden ist, wie es sich entwickelt hat und gereift ist. Wir holen verschiedene Partner ins Gespräch, verschiedene Organisationen, verschiedene Personen, sowohl mit religiösem als auch mit nicht-religiösem Hintergrund. Es schafft einen Raum für den kollegialen Austausch, der so wichtig ist. Ich denke, dass das Netzwerk die Möglichkeit hat, mit europäischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern auf eine Art und Weise in Kontakt zu treten, wie es, glaube ich, im Moment niemand sonst kann.

Aroni:

Der Glaube ist für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten sehr wichtig. Ich bin also optimistisch, was die Dialogprogramme angeht, denn sie greifen die Religion auf. Das hat meiner Meinung nach vorher gefehlt.

Als säkularer Mensch sehe ich, wie wichtig interreligiöser Dialog für diese Gemeinschaften ist, denn wenn die Politik nicht mit ihnen spricht, wenn Regierungen nicht mit ihnen sprechen, wenn die Gesetze nicht zu ihnen sprechen, dann tut es der Glaube.