Direkt zum Inhalt

In Vielfalt vereint beim interreligiösen G20-Forum: Eine Herausforderung für europäische Institutionen

11 September 2020

Marco Ventura ist Professor für Religion und religiöse Diplomatie an der Universität Siena und Direktor des Zentrums für Religionswissenschaften der Stiftung Fondazione Bruno Kessler in Trient. Seit dem Jahr 2016 ist er Mitglied des Expertengremiums für Religions- und Glaubensfreiheit im Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der OSZE. Im Jahr 2019 fungierte er als jährlicher Präsident des Europäischen Konsortiums für Kirche-Staat-Forschung. Seit 2015 nimmt er an den interreligiösen G20-Gipfeltreffen teil. Marco befasste sich für die europäischen Konsultationen 2020 mit den Lehren, die die europäischen Institutionen und Religionsgemeinschaften aus einer verstärkten sektorübergreifenden Partnerschaft ziehen können. 

Via Zoom, einem mittlerweile allgegenwärtigen Online-Tool, sprachen am 29. Juni 2020 ein EU-Kommissar und ein orthodoxer Metropolit über die Themen, die den G20-Gipfel in diesem Jahr beschäftigen werden.

Die Technologie mag nahtlos funktionieren, aber es spielen noch viel mehr Faktoren eine Rolle. Wie zum Beispiel Sprache und Verständnis. Prioritäten und Einschätzungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden durch unterschiedliche Weltanschauungen und berufliche Kontexte geprägt. Ihre Aussagen gelten nicht nur ihrem Gegenüber im Zoom-Gespräch, sondern auch für ihre Anhängerinnen und Anhängern. Sie werden vom vorherrschenden Kontext in Politik und Praxis der Glaubensgemeinschaften (oder interreligiösen Gemeinschaften) und der internationalen Politikgestaltung in Europa bestimmt, denn letztere ist für die Durchführbarkeit des Beschlossenen zuständig.

Bereichsübergreifender Dialog ist selten einfach, wenn selbst gegenseitiger Respekt nur schwer zu pflegen ist. Nichtsdestotrotz wird sein Wert allmählich wiederentdeckt, und es obliegt den europäischen Institutionen, ihren Teil beizutragen.

Seit ihrem Bestehen haben der Europarat (gegründet 1950), die Europäische Union (1957) und die Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (OSZE) (1975) sowohl gemeinsam als auch getrennt an internationalem Dialog zwischen religiösen Führerinnen und Führern und politischen Vertreterinnen und Vertretern gearbeitet.

Seit seinem Start im Jahr 2014 hat sich das interreligiöse G20-Forum zu einer einzigartigen Plattform entwickelt, „die globale Lösungen durch die Zusammenarbeit mit religiösen Vordenkerinnen und Vordenkern sowie politischen Vertreterinnen und Vertretern sucht“.

Das interreligiöse G20-Forum 2020 soll in Saudi-Arabien abgehalten werden. Es ist sowohl für die europäischen Institutionen als auch für das interreligiöse G20-Forum von entscheidender Bedeutung, dass sie sich in einen für beide Seiten bereichernden Austausch einbringen. Damit dieser Austausch stattfinden kann, müssen die europäischen Institutionen jedoch versuchen, die globale interreligiöse Mobilisierung für die Verfolgung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) zu verstärken.

In Anlehnung an das im Jahr 2000 von der Europäischen Union verabschiedete Motto "In Vielfalt geeint" ist die Herausforderung zweierlei: Einerseits betrifft sie die Einheit, die für eine wirksame weltweite Zusammenarbeit zur Erreichung der gleichen universellen Ziele erforderlich ist, andererseits berührt sie den Schutz und die Förderung der religiösen Vielfalt.

Die europäischen Institutionen sind auf drei Ebenen gefordert: die Interaktion von religiösen Führerinnen und Führern mit Politikerinnen und Politikern, die Interaktion von religiösen Führerinnen und Führern mit Gemeinschaften sowie die Interaktion von öffentlichen und privaten Akteurinnen und Akteuren.

Einheit und Vielfalt von religiösen und politischen Persönlichkeiten

Europäische Institutionen sollen mehr und bessere Wege der Zusammenarbeit mit religiösen Führerinnen und Führern und Gemeinschaften finden. Dabei muss das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber der Religion gewahrt werden. Die Religions- und Glaubensfreiheit als Gegenmittel gegen die politische Ausbeutung der Religion und die religiöse Ausbeutung der Politik muss geachtet werden.

Im Kontext der Europäischen Union bietet Artikel 17, Nr. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die rechtliche Grundlage für einen "offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog" zwischen der Union und religiösen und weltanschaulichen Organisationen.

Die europäischen Institutionen sind daher aufgerufen, an der Verbesserung ihrer Rahmenbedingungen und Praktiken zu arbeiten, um eine stärkere Solidarität mit den europäischen Religionsgemeinschaften zu fördern und die Vielfalt von Religion und Glauben ernsthaft zu schützen.

Einheit und Vielfalt von religiösen Führerinnen und Führern und Religionsgemeinschaften

Unter Wahrung der Autonomie religiöser Organisationen sind die europäischen Institutionen gefordert, Raum und Ressourcen bereitzustellen, um den Dialog zwischen religiösen Führerinnen und Führern und Mitgliedern von Religionsgemeinschaften zu unterstützen.

Dieser Prozess kann eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, die Rezeption und Reaktion von Gemeinschaften auf globale Ereignisse und politische Veränderungen zu bestimmen. Es bedarf eines kreativen Ansatzes, der die vielen Bereiche zwischenstaatlichen Handelns, die Grundprinzipien der Demokratie, der Gleichheit und der Menschenrechte berührt und sich über verschiedene Ebenen und Instrumente der Multi-Level-Governance erstreckt.

Dieser Prozess erfordert auch Anstrengungen, um den Bedürfnissen von sehr unterschiedlichen Gemeinschaften, alten und neuen, großen und kleinen, gerecht zu werden. Gleichzeitig sollen die Zusammenarbeit und die Umwandlung von Feindschaften und Rivalitäten in einen Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensstilen gefördert werden.

Einheit und Vielfalt der öffentlichen und privaten Akteurinnen und Akteure

Mit einem großen öffentlichen Sektor, mit dem die Religionsgemeinschaften auf unterschiedliche Weise verbunden sind, kämpfen die europäischen Länder mit der zunehmend durchlässigen Grenze zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre.

Auch Religionsgemeinschaften sehen sich in vielerlei Hinsicht mit dieser Grenze konfrontiert. Zum Beispiel durch religiös orientierte Unternehmen oder religiös neutrale Unternehmen, die sich für die Achtung der religiösen Vielfalt in ihrer Belegschaft, für kommerzielle und finanzielle Strategien und für die soziale Verantwortung der Geschäftswelt einsetzen.

Die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) fordern die stärkere Einbeziehung und Initiative des Wirtschaftssektors ein. Daher sind Konsultationen mit religiösen Führerinnen und Führern sowie Gemeinschaften von zentraler Bedeutung. Die europäischen Institutionen stehen vor der Herausforderung, ein einzigartiges Experiment durchzuführen und zu untersuchen, wie interreligiöse Partnerschaften zu mehr Gleichberechtigung im öffentlichen und privaten Sektor und zu einer größeren Vielfalt zwischen und innerhalb der beiden Sektoren beitragen können.

Die europäischen Institutionen sind stolz darauf, ein Beispiel für erfolgreiche zwischenstaatliche Zusammenarbeit zu sein. Sie nehmen eine Vorreiterrolle im Bereich der Religions- und Glaubensfreiheit, der Demokratie und der Menschenrechte, des Dialogs mit religiösen und weltanschaulichen Organisationen und des Austauschs über Religion in der Gesellschaft innerhalb und außerhalb Europas ein.

Das interreligiöse G20-Forum ist eine Gelegenheit, die bisherige Bilanz zu überprüfen und zu verbessern und sich mit anderen weltweit zusammenzuschließen, um eine effektivere Mobilisierung für nachhaltige Entwicklung zu schaffen.