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Dialog im Zeitalter von COVID-19: Die digitale Kluft überwinden
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betreten den Raum, sie nehmen ihren jeweiligen Platz am Tisch ein. Die Mikrofone bleiben so lange stumm, bis es sich alle bequem gemacht haben und auch die Moderatorin oder der Moderator bereit ist, die Dialogsitzung zu beginnen. Alle Anwesenden sind bereit zuzuhören, zu lernen und über geografische, religiöse und soziale Unterschiede hinweg miteinander in Kontakt zu treten.
Dieses Mal gilt es jedoch noch eine weitere Hürde zwischen ihnen zu überwinden - die digitale Kluft.
Aufgrund der COVID-19-Pandemie stellen sich Unternehmen, Einzelpersonen und Organisationen auf der ganzen Welt die Frage, wie persönliche Erfahrungen online vermittelt werden können. Reiseveranstalter bieten "virtuelle Urlaube" an, Universitäten und Schulen halten Kurse nur mehr online ab, und "digitales Dating" wird zu einer Alternative zu persönlichen Treffen.
Die Krise hat auch eine Veränderung der Herangehensweise an den interkulturellen und interreligiösen Dialog nötig gemacht.
Auch wenn diese Veränderungen Herausforderungen mit sich bringen, finden KAICIIDs Partnerorganisationen und erfahrene Dialogpraktikerinnen und -praktiker spannende neue Wege, um den Dialog nicht nur online zu ermöglichen, sondern ihn dabei auch effektiv zu gestalten.
Auf der Grundlage ihres reichen Erfahrungsschatzes setzen sie digitale Werkzeuge bewusst ein. Es mag zwar überraschend erscheinen, aber sie stellen fest, dass der Online-Dialog transformative Beziehungen über Unterschiede hinweg fördern kann.
Vertrauen und Sicherheit online schaffen
Die wissenschaftliche Forschung über die Möglichkeiten des Internets, interreligiöse Verständigung zu fördern, kommt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Diese sind oft "ambivalent oder gar widersprüchlich", schreibt Dr. Anna Neumaier, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Religionswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.
Dr. Mohammed Abu-Nimer ist Senior Adviser von KAICIID und Experte für Konfliktlösung und Dialog zur Friedensförderung. Er berichtet, dass er diese Ambivalenz in den letzten Monaten bei der Verlagerung von bisher persönlichen Interaktionen ins Internet deutlich gespürt habe.
"Der Aufbau von Vertrauen und die Schaffung von Sicherheit sind grundlegende Bestandteile jeder Beziehung", so Abu-Nimer. "Vor allem aber für Beziehungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, persönlichen Hintergründen und Religionen sind sie äußert wichtig".
Abu-Nimer erklärte weiter, dass die Pandemie aufgrund mangelnder Mobilität und Maßnahmen zur sozialen Distanzierung "den Kern dieser Bestandteile getroffen hat".
Die größte Herausforderung sei es gewesen, die Offline-Praktiken so zu verändern, dass sie auch online funktionieren und zu Erfolg führen.
Er nannte einige spezielle Herausforderungen für Organisationen, die den Dialog online fördern wollen. Das erste große Hindernis sei, "dass die Menschen sich hinter ihren Bildschirmen oder Mikrofonen verstecken, die Kamera am Laptop ausschalten oder ihre Stimme stumm schalten können", berichtet der Experte.
Dies macht eine tiefer gehende Verbindung unmöglich. Es behindert auch die Möglichkeit der Menschen, durch die eigene Auffassungsgabe und Sensibilität die nonverbalen Hinweise und die physische Präsenz des Gegenübers wahrzunehmen.
Als weitere Herausforderungen nannte er die Tendenz, dass der online abgehaltene Dialog eher kognitiv als affektiv ist. Der virtuelle Dialog wird als von der "realen Welt" abgekoppelt wahrgenommen. Außerdem können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht an offline zelebrierten Ritualen oder spontanen physischen Begegnungen und Erfahrungen teilhaben.
Anpassung an die virtuelle Sphäre
KAICIID Fellow Claudia Giampietro, Anwältin für Kirchenrecht, die katholischen Frauenorden hilft, neue Richtlinien zum Schutz von Minderjährigen und gefährdeten Erwachsenen zu entwickeln, hat diese Erfahrung auch selbst gemacht.
Giampietro dachte über ihre so genannten "Präsenz-Sitzungen" nach, die sie im vergangenen Jahr in Rom mit 30 katholischen Ordensfrauen aus Asien, Afrika und Osteuropa abgehalten hatte. Speziell Interaktionen durch Tanzen, gemeinsames Feiern und Essen seien "unglaublich bereichernd" und "helfen, Gräben zu überwinden".
Der Online-Dialog fühlt sich teilweise nur wie ein schlechter Ersatz für solche Begegnungen an.
Die Anwältin Giampietro hat den Prozess bisweilen als frustrierend empfunden. Ein weiteres Hindernis für konzentriertes Zuhören und Teilnehmen an virtuellen Dialogsitzungen kann eine instabile Internetverbindung sein. Auch Familienmitglieder sowie Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in Sicht- oder Hörweite können neben anderen Störfaktoren für Ablenkung sorgen, erzählt sie.
Trotzdem hat Giampietro Wege gefunden, sich neu zu organisieren und den virtuellen Dialog effektiv zu gestalten.
"Durch die Anpassung des Tempos an eine andere Realität, die virtuelle Sphäre, und durch Suchen des geeigneten Zeitpunkts, damit alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei sein können, sind die Ergebnisse positiver und es gibt greifbare Zeichen des Engagements der Gruppe."
Echten digitalen Dialog schaffen
Unmittelbar nach Inkrafttreten der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung sorgte KAICIIDs Special Advisor, Patrice Brodeur, für vereinfachten Dialog für die Weltpfadfinderbewegung (WOSM). Die neue Vorgehensweise kommt dem bisher offline abgehaltenen Dialogveranstaltungen so nahe wie momentan möglich.
Brodeur weiß zwar, dass es "einige wichtige Unterschiede zwischen persönlichem und online stattgefundenem Kontakt gibt", aber er ist überzeugt, dass "es möglich ist, eine virtuelle Begegnung zu haben, die ein echter Dialog sein kann".
Aber es gebe dafür einige Bedingungen, fügt er hinzu. Davon sind einige affektiver und andere technischer Natur. Auf der einen Seite, so Brodeur, sollten sich die Vermittlerinnen und Vermittler mit den angebotenen Technologien und den besten Praktiken für digitale Kommunikation vertraut machen. Auf der anderen Seite müsse man durch Erfahrung lernen, wie man effektiv Vertrauensbeziehungen aufbaut und Mitgefühl auch virtuell zeigen kann.
Als Beispiele dafür, wie man den Online-Dialog funktioneller und fruchtbarer gestalten kann, verweist Brodeur auf Organisationen, die Pioniere im Bereich des erfolgreichen Online-Dialogs waren. Insbesondere nennt er Soliya, eine in New York ansässige gemeinnützige Organisation.
Soliya startete im Jahr 2003, lange bevor Skype oder soziale Medien überhaupt verfügbar waren, mit der Prämisse, dass digitale Werkzeuge helfen können, echte Verbindungen zwischen jungen Menschen auf der ganzen Welt zu schaffen. Seitdem nutzt die Organisation interaktive Technologien, um Online-Dialog und interkulturelle Bildungsmöglichkeiten anzubieten. Soliya hat dafür den Begriff "virtuellen Austausch" geprägt.
Laut Geschäftsführerin Waidehi Gokhale begann alles mit "zwielichtigen Chatrooms". Doch diese wurden sehr bald zu einem zweckmäßig aufgebauten technologischen Ökosystem umgestaltet, das nun so erlebbar und emotional wie möglich ist.
"Unser Austauschportal wurde speziell mit Blick auf den Dialog entwickelt", erzählt Gokhale. Es wurde so konstruiert, dass es mehrere verschiedene Bandbreite-Möglichkeiten bietet und die Sicherheit und Privatsphäre aller Beteiligten schützt. Das Austauschportal ist auch so konzipiert, dass es ein runder Tisch mit Videobildschirmen und einer Chatbox in der Mitte ist, und nicht eine Galerie wie bei Zoom oder anderen digitalen Kommunikationsplattformen. Soliya verwendet die Methode des "Talking Sticks", das heißt, es gibt kein Format des "offenen Mikrofons".
"All dies trägt dazu bei, Intimität, Engagement und Sicherheit zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu schaffen", so Gokhale.
Soliya hat in Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern vom M.I.T. über viele Jahre die Ergebnisse beobachtet, gemessen und ausgewertet. Die Organisation weiß nun, dass ihr "virtueller Austausch" funktioniert. Jetzt, da die Welt sich digitalen Werkzeugen zuwendet, um den Dialog in einer Zeit der sozialen Distanzierung zu erleichtern, wenden sich Einzelpersonen und Organisationen an Soliya, um sich dahingehend beraten zu lassen.
"Es ist jetzt viel einfacher zu erklären, was wir tun", so Gokhale. "Die Menschen standen unserer Arbeit in der Vergangenheit skeptisch gegenüber, aber jetzt sehen sie die Bedeutung und die Durchführbarkeit des virtuellen Austauschs. Sie erkennen diese wichtigen, greifbaren Fähigkeiten in einer Zeit, in der Dialog und Zusammenarbeit eindeutig der Weg in die Zukunft sind."
Das Durchführen von Online-Austausch braucht Zeit
Während der online abgehaltene Dialog eine Herausforderung für die Gewährleistung von Sicherheit und Komfort darstellen kann, weiß Gokhale, dass er eine große geografische Reichweite möglich macht. Er bietet Möglichkeiten, die Neugierde auszuleben, einen sicheren Ort zum Erlernen von Fertigkeiten aus der realen Welt und auch langfristig "nachhaltigeres" Lernen.
Um anderen zu helfen, hat Gokhale einige Vorschläge.
"Zu Beginn muss man die Sache langsam angehen und verstehen, dass der Austausch online mehr Zeit in Anspruch nimmt. Dann braucht man eine geschulte Person als Moderatorin oder Moderator, die dabei hilft, die Eigenverantwortung der Gruppe zu fördern. Diese Person muss auch Machtdynamiken offen und frühzeitig benennen, um von Anfang an ein Gefühl der Sicherheit und der gegenseitigen Verpflichtung zu schaffen", erklärt sie.
Vor allem müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unabhängig davon, ob der Austausch offline oder online über Zoom oder via Microsoft Teams stattfindet, immer bereit sein, sich mit Einfühlungsvermögen in Gespräche und Entscheidungen einzubringen, so Gokhale.
Brodeur schloss sich Gokhales Betonung der Moderation an und empfahl eine "Person im Hintergrund" als Unterstützung, die sich um die technischen Details kümmert, während die "Moderatorin oder der Moderator im Vordergrund" das Gespräch anleitet.
All diese Bemühungen brauchen Zeit, darin waren sich die Expertinnen und Experten einig.
Abu-Nimer mahnte zu Geduld und führte aus, dass die Bemühungen, alles so interaktiv wie möglich zu gestalten, dazu beitragen, das Vertrauen und die Sicherheit zu schaffen, die für einen wirksamen Dialog unerlässlich sind.
"Wenn es Zeit braucht, diese offline aufzubauen, muss man noch härter arbeiten und noch kreativer sein, um sie online ebenso vorbereiten zu können", so Abu-Nimer.
Aber, so sagt er, "es ist machbar".