Direkt zum Inhalt

Gewalttätigen Extremismus bekämpfen und Solidarität in Europa fördern

02 Dezember 2020

Am 29. Oktober wurden in der Basilika Notre Dame in Nizza, Frankreich, drei Menschen erstochen. Europa war von dem Angriff erschüttert, doch schon kurz danach, am 2. November gegen 20.00 Uhr beging ein Mann in Wien mehrere Schussattentate, bei denen vier Menschen getötet und 23 weitere verletzt wurden.

Überall auf der Welt ringen Vertreterinnen und Vertreter von Religion und Politik mit ihrer Verantwortung, Schutz zu bieten, aber auch Brücken zwischen den Gemeinschaften nach solchen gewalttätigen Angriffen zu bauen, wenn die Beziehungen stark angespannt sein können.

Insbesondere in Europa setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass wirksame Reaktionen und die Zusammenarbeit zwischen religiösen Führungspersönlichkeiten und politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern entscheidend für die Aufrechterhaltung der sozialen Solidarität und die Verhinderung weiterer Straftaten sein kann.

Vor diesem Hintergrund und zusammen mit dem Europäischen Rat der Religionsführer (ECRL) / Religions for Peace Europe veranstaltete KAICIID das Webinar „Prävention und Reaktion: Der Beitrag von religiösen Führerinnen und Führern zur Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus und zur Förderung der sozialen Solidarität in Europa“.

An dem Webinar nahmen religiöse und politische Führungskräfte aus nationalen und internationalen Organisationen mit Sitz in Europa teil, die sich mit der Frage beschäftigten, wie unmittelbar nach einem Angriff reagiert werden kann und welche Schritte erforderlich sind, um langfristig gewalttätige Akte von Extremismus zu verhindern.

KAICIID-Generalsekretär Faisal bin Muaammar erklärte: „Der Missbrauch von Religion auf der einen Seite und die gezielte Verfolgung religiöser Minderheiten auf der anderen Seite sind zu einem bedauerlichen Merkmal unserer Gesellschaften geworden.“

Das Webinar bot „einen Raum der Reflexion, des Vertrauens und des Austauschs, während wir versuchen, diese Erfahrungen und unsere Reaktion darauf zu verarbeiten“, so der Generalsekretär.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erörterten eine Reihe von Fragen, darunter: Was brauchen Religionsgemeinschaften voneinander, um wirksam auf solche gewalttätigen Angriffe zu reagieren und sie zu verhindern? Welche Rolle und Verantwortung haben religiöse und politische Führungspersönlichkeiten gegenüber ihren eigenen Gemeinschaften und Gesellschaften in solchen Szenarien? Und wie können sie das Leid und den Schmerz, die durch solche Vorfälle verursacht werden, ansprechen und diese Gefühle in Richtung Liebe und nicht in Richtung Hass lenken?

Reaktionen aus Österreich

Seit dem Angriff in Wien hat KAICIID mehrere Gelegenheiten für solche Überlegungen geboten, darunter „Ein Gespräch mit der Jugend: Der Terroranschlag in Wien und der Weg in die Zukunft“ am 23. November.

Während dieser Veranstaltung betonten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Notwendigkeit, Einigkeit zu demonstrieren und nicht zuzulassen, dass Gewalttaten die Gesellschaft weiter spalten. Adis Serifovic, Bundesvorsitzender der Muslimischen Jugend Österreichs, meinte: „Hoffnungslosigkeit ist genau das, was diese Terroristen und Extremisten wollen. Sie wollen uns spalten, sie wollen uns Angst einjagen. Dem müssen wir entgegentreten.“

Serifovics Stimmung wurde von Prof. Dr. Markus Ladstätter von der Pädagogischen Hochschule Graz aufgegriffen. „Terroristen wollen die Gesellschaft spalten. Die erste Reaktion sollte sein, dass es keine Möglichkeit gibt, uns zu spalten.“

Leider, so bin Muaammar, „zeigen Untersuchungen, dass es nach jedem Terroranschlag zu einer Eskalation von Hassrede und Hassverbrechen kommt. Jeder terroristische Angriff ist der Beginn hunderter neuer Hasszyklen und kann zig neue Brüche in unseren Gesellschaften hervorrufen, die schwer zu reparieren sind.“

„Für KAICIID und für uns alle hier, die wir uns der Förderung des Friedens und des Verständnisses für den anderen verschrieben haben, hat jeder Angriff und seine Folgen zwei Auswirkungen: ein Signal, unsere Anstrengungen zu verdoppeln sowie eine schmerzhafte Erinnerung daran, wie weit wir noch gehen müssen, um unser Ziel zu erreichen“, so bin Muaammar.

Prof. Dr. Regina Polak, Leiterin des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Universität Wien, sagte, die "Last des Misstrauens" nach Anschlägen erfordere von religiösen Führerinnen und Führern, dass sie über die "symbolische Einheit" hinaus praktische Schritte unternehmen. Dazu zählt zum Beispiel die Opfer von Gewalt zu trösten, solche Taten ausdrücklich zu verurteilen und geeignete Netzwerke und Kommunikationsstrukturen aufzubauen, bevor eine weitere Krise eintritt.

Rabbiner Schlomo Hofmeister, seit dem Jahr 2008 Gemeinderabbiner von Wien, begleitete kürzlich seine eigene Stadt durch den Schmerz solch verheerender Angriffe und lobte die Solidarität, die in den folgenden Tagen über religiöse Grenzen hinweg gezeigt wurde. Die Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt, so Hofmeister, bestehe darin, diese Stimmung in den kommenden Monaten und Jahren aufrechtzuerhalten.

Damit diese Einheit fortbestehe, so Polak, „gibt es keine andere Option als Dialog und Begegnung. Wenn wir uns aus interreligiösen Beziehungen zurückziehen, lassen wir die gewalttätigen Extremisten gewinnen.“

Die Rolle der Religionsgemeinschaften bei Prävention und Heilung

Extremistische Strömungen innerhalb der Religionsgemeinschaften die Oberhand gewinnen zu lassen, sei inakzeptabel, fügte Pfarrer Dr. Thomas Wipf, Präsident von ECRL/RfP Europe, hinzu. „Als Religionsgemeinschaften haben wir die Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um zu verhindern, dass wir zur Rechtfertigung jeglicher Form von Gewalt missbraucht werden.“

Dies erfordere ehrliches Nachdenken seitens der religiösen Führungspersönlichkeiten, die „mit unseren eigenen Fehlern und Irrtümern umgehen“ und Wege finden müssen, „sich gegenseitig zu unterstützen“, um gemeinsame Herausforderungen anzugehen, fügte er hinzu.

Gleichzeitig erkannten die Anwesenden auch an, dass religiöse Führerinnen und Führer sowie ihre Gemeinschaften oft Opfer und Ziele von Angriffen sind und selbst Unterstützung brauchen.

Rabbiner Schlomo Hofmeister erklärte: „Gewalt im Namen der Religion ist immer etwas sehr Schmerzliches für alle Beteiligten. Dazu gehören auch Religionen und religiöse Führungspersönlichkeiten, die dafür verantwortlich gemacht werden. Wir müssen deutlich machen, dass Religion nicht dazu benutzt werden darf, Gewalt zu rechtfertigen.“

Der Prozess der Heilung erfordere Solidarität zwischen religiösen Führerinnen und Führern, Politikerinnen und Politikern sowie der Gesellschaft insgesamt, um die Rhetorik zu verurteilen, die „ein Klima der Polarisierung schafft“, so Rabbi Hofmeister.

Er sagte, Österreich sei von dem Anschlag in Wien "erschüttert" worden und beginne, einer solchen Polarisierung entgegenzutreten: „Wir können nicht warten, bis die Anschläge geschehen, um darauf zu reagieren, dann ist es zu spät.“

„Wir müssen Mut zeigen, uns von polarisierender Sprache distanzieren und sie verurteilen. Das ist ein Mittel der Prävention“, so der Rabbi.

Rehman Chishti, britischer Abgeordneter und ehemaliger Sondergesandter für Religions- und Glaubensfreiheit, und Imam Yahya Pallavicini, Präsident von COREIS, der Islamischen Religionsgemeinschaft Italiens, hoben die Doppelrolle von Politikerinnen und Politikern und religiösen Führerinnen und Führern in diesem Prozess hervor.

Chishti erklärte: „Jedes Wort hat eine Bedeutung. Politikerinnen und Politiker müssen sehr sorgfältig darauf achten, was sie sagen und welche Wirkung es haben kann.“

Er würdigte zwar die Rolle politischer Entscheidungsträgerinnen und -träger beim Schutz der Religionsfreiheit, warnte aber, „Gesetze können Menschen nicht dazu bringen, miteinander auszukommen. Es braucht sinnvolles Engagement zwischen Menschen verschiedener Gemeinschaften. In diesem Bereich sind religiöse Führungskräfte absolut unerlässlich“.

Zu diesem Zweck, so Imam Pallavicini, müssten religiöse Führerinnen und Führer neue Dialogfähigkeiten und eine neue Sprache entwickeln, um „eine Brücke zwischen Gläubigen, Bürgerinnen und Bürgern, Institutionen und Politikerinnen und Politikern zu schlagen“.

„Wir können den theologischen Diskurs nicht allein führen“, führte er weiter aus, „wir müssen eine theologische Antwort entwickeln, die sich an den Kontext und die Herausforderungen der Gesellschaft, an die Sprache der Medien und an konkrete politische Empfehlungen für Institutionen anpassen lässt.“