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Gesundheitliche Probleme in religiösen Gemeinschaften: Herausforderungen und Lösungsansätze

09 Juni 2021

Im Verlauf der Coronavirus-Pandemie standen religiöse Führerinnen und Führer oft an vorderster Front bei der Bewältigung der globalen Gesundheitskrise. Religiöse Rituale wurden an die neuen Normen der sozialen Distanzierung angepasst und digitale Angebote für Gottesdienste geschaffen. Doch religiöse Führerinnen und Führer leisteten auch humanitäre und medizinische Hilfe, und wurden zu lokalen Expertinnen und Experten in der Informationsverbreitung.

Aktuell konzentriert sich die Welt auf die Verteilung von Impfstoffen und die Rückkehr zu einem gewissen Maß an Normalität in den kommenden Monaten und Jahren. Religiöse Gemeinschaften und Führungspersönlichkeiten müssen sich nun, wie die Gesellschaft insgesamt, den Herausforderungen stellen, die durch Ängste, Misstrauen gegenüber der Wissenschaft oder der Regierung sowie Falschinformation über den Impfstoff entstehen. In einigen Regionen wird darüber gestritten, ob der Impfstoff mit religiösen Werten und Gesetzen vereinbar ist.

Bei einem Workshop für ehemalige KAICIID Fellows im April 2021 teilten Sarah Hess, Sally Smith und Melinda Frost vom Informationsnetzwerk für Epidemien (EPI-WIN), Programm für gesundheitliche Notlagen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ihre Erkenntnisse über die Bedeutung der Zusammenarbeit mit religiösen Gemeinschaften während der Krise. Sie stellten auch einige Möglichkeiten und bewährte Praktiken für religiöse Gemeinschaften vor, um diesem allumfassenden globalen Gesundheitsnotfall zu begegnen. Der folgende Text ist ein Auszug aus ihrer Präsentation.

Auf die Bedenken der Gemeinden eingehen

Laut Sally Smith sind Impfungen mit dem Ziel, eine Herdenimmunität zu erreichen, eindeutig die akuteste Herausforderung, vor der die Weltgemeinschaft steht. Doch was bedeutet das für gläubige Menschen? Smith weiß, dass Religionsgemeinschaften vor allem allgemeine und glaubensspezifische Bedenken haben. Die allgemeineren Bedenken reichen von Fragen über die kurze Zeitspanne der Entwicklung des Impfstoffs bis hin zu der Frage, ob es sicher ist, Kinder zu impfen, oder wie lange der Schutz gegen COVID-19 anhält.

Andere Vorbehalte sind eher glaubensspezifisch. Smith berichtet von grundlegenden Bedenken religiöser Gemeinschaften, die staatliche Restriktionen der gemeinsamen Religionsausübung in Frage stellen und stärkere Einschränkungen der Religionsfreiheit befürchten. Außerdem könnte das Virus ein Vehikel für Haltungen werden, die religiöse und/oder ethnische Säuberungen erleichtern. Auf der anderen Seite gibt es praktische Bedenken, die von mehreren Religionsgemeinschaften geteilt werden. Das betrifft mangelnde Ressourcen für soziale Maßnahmen, die psychische Gesundheit während der ständigen Isolation oder wie man Hunger, Armut und zunehmende geschlechtsspezifische Gewalt im Zusammenhang mit der Pandemie angehen kann.

Wenn es um Impfstoffe und deren Verteilung geht, sind die Sorgen der religiösen Gemeinschaften sehr unterschiedlich, so Smith. „Es gibt viele Bedenken im Zusammenhang mit Impfstoffen: von muslimischen, hinduistischen und jüdischen Gruppen, die die Verwendung von verbotenen Substanzen in der Impfstoffproduktion in Frage stellen, bis hin zu der Frage, ob Föten bei der Forschung und Herstellung geschädigt wurden.“

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Führungspersönlichkeiten in den jeweiligen Religionsgemeinschaften haben mit rechtlichen Erklärungen über tierische Produkte darauf reagiert, die zum Beispiel versichern, dass für die Impfstoffe keine fötalen Zellen verwendet werden. Dennoch bleibt die Ablehnung von Impfstoffen in den Religionsgemeinschaften ein Thema.

Religiöse Führerinnen und Führer können daher einen wichtigen Beitrag leisten, die Vorbehalte gegen den COVID-19-Impfstoff zu zerstreuen, sagt Sarah Hess von der WHO. „Religiöse Führerinnen und Führer stehen ihrer Gemeinde nahe, auch wenn nicht alle Menschen regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen. Sie können eine Vorreiterrolle einnehmen, indem sie sich impfen lassen, glaubensbasierte Erklärungen zur Wirksamkeit und Vertrauenswürdigkeit des Impfstoffs abgeben oder religiöse Stätten für die Verabreichung der Impfung anbieten.“

Wie man die "Infodemie" neben der Pandemie bekämpft

Die Bemühungen, Bedenken im Zusammenhang mit Impfstoffen und den Verteilungsstellen auszuräumen, gehören zu den größten Herausforderungen, die sich aus der Fülle an Informationen im Verlauf der Pandemie ergaben. Angesichts der globalen Verbundenheit durch digitale Kommunikationsnetzwerke und soziale Medien mussten sich Individuen und Gemeinschaften mit einem Tsunami an Informationen auseinandersetzen, einschließlich falscher und irreführender Meldungen.

Bereits im Februar 2020, als die WHO das Coronavirus zu einem "Globalen Gesundheitsnotfall" erklärte, sagte ihr Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus: „Wir kämpfen nicht nur gegen eine Epidemie, sondern gegen eine Infodemie. Fake News verbreiten sich schneller und leichter als das Coronavirus und sind genauso gefährlich.“

Das bedeutet laut Melinda Frost, dass die WHO „darüber nachdenken musste, wer auf die verschiedenen Kanäle zugreift und welche Präferenzen die Nutzerinnen und Nutzer in Bezug auf vertrauenswürdige Informationen haben.“ Dabei stellte sich heraus, dass die Einbindung der Bevölkerung vor Ort besonders wichtig ist. Gewinnt man ihr Vertrauen, folgt sie den auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Ratschlägen.

Religiöse Akteurinnen und Akteure sowie Führerinnen und Führer sind in dieser Hinsicht besonders hilfreich. „Sie genießen Vertrauen und können Einfluss nehmen“, sagt Frost. „Sie haben eine einzigartige Position des Vertrauens im Leben der Menschen inne.“ Geschultes medizinisches Fachpersonal kümmert sich um die gesundheitliche Krise und religiöse Persönlichkeiten kann ihm zur Seite stehen, um Ängste der Patientinnen und Patienten zu beschwichtigen und auf Befürchtungen einzugehen, wozu medizinisches Fachpersonal möglicherweise nicht in der Lage ist. Religiöse Führerinnen und Führer sollten selbst recherchieren und Fakten von Fiktion trennen, um inmitten von Angst und Unsicherheit eine verlässliche Informationsquelle zu sein, sagt der Experte Rev. Dr. Willard Ashley. Sie hören zu und kümmern sich um Sorgen, dabei sollten sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um mit Falschinformationen richtig umzugehen und den Menschen Hilfestellungen anzubieten, die sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch die jeweiligen religiösen Werte ihrer Gemeinden respektieren. Durch ihre Verwurzelung in den lokalen Gemeinschaften spielen religiöse Führerinnen und Führer eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Gerüchten und Mythen und bei der Stärkung nationaler Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und des Sozialwesens.

Kollektive Ansätze zeigen Wirkung

Neben der Bekämpfung von irreführenden Informationen und Verschwörungsmythen können religiöse Führerinnen und Führer sowie Gemeinschaften laut Hess inmitten globaler Gesundheitsnotfälle vielfältige Formen der Unterstützung anbieten.

In Partnerschaft mit anderen „Gemeinschaften der Praxis“ wie Regierungen, zwischenstaatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen haben religiöse Persönlichkeiten eine Reihe von Werkzeugen zur Hand, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, die psychische Gesundheit zu fördern, soziale Stigmatisierung zu bekämpfen, sich um die Schwächsten zu kümmern und Hilfe zu leisten. Erstens können sie mit lokalen, regionalen und nationalen Regierungen zusammenarbeiten, um gemeinsam ein Rahmenwerk für ihre Arbeit zu entwickeln. Zweitens können sie gemeinsam den Bedarf für Forschung, Schulungen und Kapazitätsaufbau erheben und darauf reagieren, um neben medizinischen Maßnahmen auch spirituelle Begleitung anzubieten und medizinische Diskriminierung zu verhindern. Drittens können sie gemeinsam vereinfachte Botschaften erarbeiten und auf vertrauenswürdige Ressourcen verweisen, um die Kommunikation rund um COVID-19-Impfstoffe zu erleichtern.

Hess wies auf den „Kollektiven Dienst für Risikokommunikation und Bürgerbeteiligung“ als wichtige Ressource in diesem Zusammenhang hin. Die im Juni 2020 gestartete Initiative ist eine Partnerschaft zwischen der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die vom Globalen Netzwerk zur Warnung und Reaktion bei Krankheitsausbrüchen (GOARN) und wichtigen Akteuren aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und dem humanitären Sektor aktiv unterstützt wird. Die Partnerorganisationen haben aus früheren Reaktionen auf Ausbrüche gelernt und die Notwendigkeit erkannt, gemeinsame Ansätze zu erweitern und zu verfeinern, um der beispiellosen Herausforderung und den Erfordernissen durch die COVID-19-Pandemie gerecht zu werden.

Die auf der Website zur Verfügung gestellten Ressourcen haben bereits zu erfolgreichen Gemeinschaftsprogrammen auf der ganzen Welt geführt, berichtet Hess. Auf den Philippinen führten glaubensbasierte Organisationen (FBOs) in Dörfern ein Training zur Widerstandsfähigkeit gegen Katastrophen durch. Sie stellten fest, dass sich weniger der geschulten Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit dem Coronavirus infizierten als solche ohne dieses Training. In China halfen Tempel und Gotteshäuser bei Initiativen der Regierung zur Kontaktverfolgung und heilige Stätten öffneten ihre Türen für medizinische Dienste, um weiteren Wellen von Infektionen mit dem Coronavirus in Indien zu begegnen.

Religionsgemeinschaften, die sich aktiv beteiligen oder mehr darüber erfahren möchten, wie sie in die Planung, Bereitstellung und Bewertung neuer Hilfsmittel zur Bekämpfung des Virus einbezogen werden können, finden mehr Informationen im Leitfaden „10 Schritte zur Vorbereitung der Gemeinschaft“ des Kollektiven Dienstes. Der Leitfaden zielt darauf ab, „informierte, engagierte und handlungsfähige Gemeinschaften“ zu schaffen, die als „Basis für den Empfang neuer Impfstoffe, Behandlungen und Tests dienen, die eingeführt werden, um die Verbreitung des Coronavirus zu reduzieren und so Leben zu retten.“