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„Solidarität ist keine Entscheidung oder ein Akt der Nächstenliebe. Sie ist ein Muss“ - Das Interreligiöse G20-Forum thematisiert COVID-19

15 Oktober 2020

Hunderte religiöse Führerinnen und Führer, politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie andere Fachleute versammelten sich am zweiten Tag des Interreligiösen G20-Forums virtuell, um die Gesundheitskrise COVID-19 zu thematisieren. Sie beschrieben die wichtige Rolle, die Glaubensgemeinschaften bei der Unterstützung der weltweiten Bemühungen zur Linderung des durch die Pandemie verursachten Leids spielen. 

Die fünftägige Online-Konferenz wird von KAICIID und seinen Partnern, der Allianz der Zivilisationen der Vereinten Nationen (UNAOC), der G20 Interfaith Association und dem Nationalen Komitee für interreligiösen und interkulturellen Dialog Saudi-Arabiens veranstaltet.

Auf die Eröffnungssitzung im Plenum folgten Podiumsdiskussionen darüber, wie Glaubensgemeinschaften zusammenarbeiten können, um die Pandemie zu bekämpfen, interreligiöse multilaterale Antworten auf COVID-19 zu finden und gefährdete Gruppen auf der ganzen Welt zu unterstützen.

Dr. Hassan Nadhem, Minister für Kultur, Tourismus und Altertümer im Irak, nutzte seine Eröffnungsrede, um die Rolle der religiösen Institutionen während der Pandemie zu betonen. „Wir müssen die sehr wichtige Rolle der religiösen Institutionen und auch der religiösen Führungspersönlichkeiten hervorheben, die ganz besondere Unterstützung geleistet haben, um das Bewusstsein der Bevölkerung, der öffentlichen Meinung, aber auch der Regierungsinstitutionen zu schärfen.“

Jüngste Zahlen belegen, dass die bestätigten Coronavirus-Fälle weltweit auf 38,2 Millionen gestiegen sind, davon 1,09 Millionen Todesfälle.

Dieser Punkt wurde durch die Anwesenheit von Dr. Nezar Bahabri, Direktor der Abteilung für Innere Medizin am Dr. Soliman Fakeeh Hospital (DSFH), Königreich Saudi-Arabien, der trotz seiner Erkrankung an COVID-19 am Forum teilnahm, auf eindrückliche Weise deutlich gemacht. Seine Teilnahme unterstrich die realen Risiken, denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen im Kampf gegen diese Pandemie täglich ausgesetzt sind.

„Mich betrifft COVID-19 als Patient und als Arzt. Religiöse Führerinnen und Führer haben während der Pandemie eine wichtige Rolle, denn sie betrifft die Seele der Religion. Religiöse Führerinnen und Führer bieten uns Lösungen an, um unser Leben zu erleichtern. Sie tun alles, um sicherzustellen, dass die Menschen ruhig bleiben und nicht depressiv werden. Es hat dem ganzen Land Saudi-Arabien wirklich geholfen, diese schwierige Zeit zu überstehen.“

Dr. Mohammed Al-Abdulaali, stellvertretender Gesundheitsminister und Sprecher des Gesundheitsministeriums, erklärte, das Königreich Saudi-Arabien habe sich bei der COVID-19-Bekämpfung auf drei Schlüsselaktionen konzentriert: Früherkennung, Verhinderung der Ausbreitung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Dabei müsse sichergestellt werden, dass die Gesundheitsrichtlinien für alle zugänglich seien. „Es ist wichtig, Informationen in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Formaten bereitzustellen, um den Menschen zu helfen, sie anzuwenden.“

Seit dem Ausbruch von COVID-19 haben sich religiöse Institutionen auf der ganzen Welt an die Schließung von Gotteshäusern gewöhnt und neue Wege gefunden, um ihre Gläubigen zu erreichen und ihnen die dringend benötigte geistliche Unterstützung zukommen zu lassen.

„Die Pandemie hat gezeigt, dass einige Regierungen nicht verstehen, warum und wie Religion für das Leben von Milliarden Menschen grundlegend ist“, so Elder David A. Bednar, Kollegium der Zwölf Apostel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

„Religion ist das Zentrum unseres Lebens und der Kern unserer Identität“, fügte er hinzu und wies auf das Maß an Legitimität und Vertrauen hin, das viele religiöse Führungspersönlichkeiten und Institutionen genießen. „Regierungen sowie Politikerinnen und Politiker können Verbündete im Kampf gegen Gesundheitsrisiken und andere ernsthafte Probleme gewinnen, wenn sie die Religionsfreiheit in Zeiten des Coronavirus und die Bedeutung der Religion im Leben der Menschen anerkennen.“

Die Coronavirus-Pandemie hat die Wirtschaft, das Bildungs- und Gesundheitswesen stark beeinträchtig. Doch ihre Auswirkungen zeigen sich vielleicht am deutlichsten in der dramatischen Zunahme von Hassrede, einschließlich Islamophobie, Antisemitismus und Rassismus, auf einigen der weltweit führenden sozialen Medienplattformen, darunter Facebook und Twitter.

Ein Bericht von Equality Labs in New York kam im Mai zu dem Ergebnis, dass eine Reihe von Twitter-Hashtags, muslimische Menschen in aller Welt fälschlicherweise beschuldigen, absichtlich COVID-19 zu verbreiten; islamfeindliche Desinformationen und Hassrede an 170 Millionen Nutzerinnen und Nutzer verbreitet haben. In dem Bericht wurde auch detailliert beschrieben, wie sich Hashtags wie #Coronajihad weit verbreitet hatten. Beiträge mit antimuslimischer Rhetorik wurden auch auf Plattformen wie Facebook, WhatsApp und Instagram verbreitet.

„Es ist besonders erschreckend, Zeuge des Anstiegs von Hassrede, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Christianophobie, Rassismus und verabscheuungswürdigen Formen der Diskriminierung zu werden“, so Nihal Saad, Kabinettschefin und Sprecherin des Hohen Vertreters bei der Allianz der Zivilisationen der Vereinten Nationen (UNAOC).

„Diese bösen Kräfte sorgen für Risse und Löcher im Gefüge unserer Gesellschaften und lösen einen Teufelskreis der Gewalt aus. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Spaltung unserer Gesellschaften eine der schwerwiegendsten Veränderungen durch COVID-19 ist. Sie hat langfristige Auswirkungen.”

Das Thema Hassrede beherrschte das Plenum. „Wir sehen heute in unverhältnismäßig hohem Maße Minderheiten als Opfer der Krankheit, wir sehen politische Umwälzungen, kommunale Ängste, gesellschaftliche Spannungen und Streitigkeiten, eine Zunahme von Hassrede und Hassverbrechen“, berichtete Rabbi David Saperstein, Präsident der Weltunion für Progressives Judentum.

„Ich hoffe, dass das enorme Potenzial interreligiöser Gemeinschaften zur Zusammenarbeit bei der Bewältigung dieser Krise angesprochen wird. Dieses Treffen ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.“

Glaubensgemeinschaften kämpfen gemeinsam gegen die COVID-19-Pandemie

Sarah Hess, Technische Spezialistin für die Katastrophen-Vorbereitung bei der WHO, erinnerte die Anwesenden daran, dass es trotz zunehmender Ungleichheit und Konflikte auch beispiellose Momente der Einigkeit gegeben habe. „In vielen Teilen der Welt und in vielen verschiedenen Gemeinschaften haben wir unglaubliche Solidaritätsbekundungen gesehen. Ich denke, Glaubensgemeinschaften bieten seit langem Fürsorge an und arbeiten oft mit marginalisierten und verletzlichen Menschen.“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Podiumsdiskussion wiesen außerdem darauf hin, dass es Wege braucht, um Informationen auszutauschen und besser zu nutzen. Nur so können stärkere Partnerschaften zwischen Glaubensgemeinschaften und anderen Sektoren wie Wirtschaft und Gesundheit entwickelt werden.

„Ich glaube, dass es für Glaubensgemeinschaften sehr wichtig ist, mit gutem Beispiel voranzugehen. Im Hinblick auf die Interaktion von Glaubensgemeinschaften mit dem Wirtschaftssektor sowie Forschung und Innovation wird das von großer Bedeutung sein. Gleichzeitig müssen Glaubensgemeinschaften als Partner von Laboren für humanzentrierte künstliche Intelligenz und digitale Technologien für Gesundheit und Wohlergehen anerkannt werden“, so Prof. Marco Ventura, Ordentlicher Professor für Recht und Religion an der Universität Siena, Italien.

Religiöse Persönlichkeiten und multilaterale Reaktion auf die COVID-19-Krise

Dr. Tamader Al-Rammah, Mitglied der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ehemalige Vizeministerin für Arbeit und soziale Entwicklung des Königreichs Saudi-Arabien, erklärte, dass diese Art der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Interessengruppen und Sektoren genau das ist, was es braucht, um richtig auf die Pandemie zu reagieren.

„Solidarität ist keine Entscheidung oder ein Akt der Nächstenliebe. Sie ist ein Muss. Kein Staat und keine Führungsperson kann dies allein tun. Dies ist die Zeit des gemeinsamen Handelns.“ 

Im Gegensatz zu einigen politischen Vertreterinnen und Vertretern sind religiöse Organisationen tief in lokalen Gemeinschaften verwurzelt. Sie können sich auf breites Wissen stützen, wenn es darum geht, Menschen zu erreichen und ihnen Unterstützung zu bieten. Aus diesem Grund ist ihre Beteiligung am Krisenmanagement von COVID-19 von entscheidender Bedeutung.

Aufgrund ihrer direkten Verbindungen zur Gemeinschaft kennen religiöse Persönlichkeiten auch die Probleme im Vorgehen der Regierungen sowie diskriminierende Maßnahmen, die ergriffen werden, um Minderheiten oder Randgruppen ihre grundlegenden Menschenrechte zu verweigern.

„Wir müssen die wenigen Regierungen, die sowohl strikt als auch so gerecht wie möglich auf die Pandemie reagieren, der Bevölkerung Aufmerksamkeit schenken sowie offen und transparent sind, würdigen und auch die G20 dazu ermutigen“, so Ruth Messinger, Globale Botschafterin des American Jewish World Service.

Unterstützung gefährdeter Gruppen in Zeiten von COVID-19

Zusammenarbeit war auch ein Thema, das von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den Diskussionen über die Unterstützung der Schwachen während COVID-19 hervorgehoben wurde.

„Sowohl politische als auch religiöse Führerinnen und Führer unterliegen dem gleichen Missverständnis, dass sie es allein und ohne Zusammenarbeit mit dem anderen oder sogar auf Kosten des anderen schaffen können. Unsere Erfahrung zeigt uns, dass den Schwachen am besten geholfen ist, wenn sowohl politische als auch religiöse Führerinnen und Führer und Institutionen Seite an Seite für das Gemeinwohl arbeiten“, gab Dr. Mohammad Sammak zu bedenken, Generalsekretär des Nationalen Komitees für christlich-muslimischen Dialog im Libanon und Mitglied des KAICIID-Direktoriums.

Maria Lucia Uribe, Direktorin von Arigatou International in Genf, hob Kinder als besonders gefährdete Gruppe während der Pandemie hervor und rief Glaubenspersönlichkeiten dazu auf, junge Menschen in ihren Gemeinden einzugehen. „Wir sollten uns auf das spirituelle Wohlergehen der Kinder konzentrieren, das in ihrer Ausbildung oft nicht berücksichtigt wird, obwohl Studien gezeigt haben, dass Spiritualität zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Menschen beiträgt. Sie kann auch als ein wichtiger Aspekt beim Umgang mit negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie betrachtet werden, insbesondere wenn es um die psychische Gesundheit der Kinder geht.“

In Anerkennung des Vertrauens, das ihnen von den lokalen Gemeinschaften entgegengebracht wird, ermutigten die Anwesenden die religiösen Führerinnen und Führer auch, klare und umsetzbare Botschaften zur öffentlichen Gesundheit zu verbreiten.

„Religiöse und traditionelle Persönlichkeiten sind häufig in der Lage, in Krisenzeiten zu reagieren und ihren Gemeinschaften Informationen und Maßnahmen zu vermitteln“, so Dr. Mohammed Elsanousi, Exekutivdirektor des Netzwerks für traditionelle und religiöse Friedensstifter.

„Durch diesen Mehrwert bemühen sich Regierungen aktiv um eine Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften, um die Pandemie in den lokalen Gemeinschaften besser bekämpfen zu können.“