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„In den meisten europäischen Ländern ist friedliches Zusammenleben Tradition“

03 Dezember 2021

Von strengen Lockdowns bis hin zu verpflichtender Quarantäne hat die Coronavirus-Pandemie extremen Druck auf die Bevölkerungen in aller Welt ausgeübt. Sie hat auch einen „Tsunami von Hass und Fremdenfeindlichkeit, Sündenbockdenken und Panikmache“ ausgelöst, so UN-Generalsekretär António Guterres.

In Europa ist das Thema nicht weniger wichtig. Am 5. Oktober stellte die Europäische Union eine neue Strategie zur Bekämpfung des zunehmenden Antisemitismus auf dem Kontinent vor. Sie soll Hassrede bekämpfen, das Bewusstsein für jüdisches Leben schärfen, religiöse Stätten schützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass der Holocaust von künftigen Generationen nicht vergessen wird.

Nach Angaben der in Wien ansässigen Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) geben neun von zehn Jüdinnen und Juden an, dass Antisemitismus in ihrem Land ein ernstes und zunehmendes Problem darstellt. Mehr als ein Drittel hat schon einmal erwogen auszuwandern, um solchen Übergriffen zu entgehen.

Als Reaktion auf die Krise wird die Europäische Kommission, die Exekutive der EU, eine neue Strategie zur Bekämpfung der „anhaltenden und deutlich zunehmenden antisemitischen Vorfälle“ in den 27 Mitgliedstaaten der EU vorstellen.

Die Ursachen von Hassrede zu untersuchen ist eine Priorität für KAICIID. Im Jahr 2019 lud die Organisation mehr als 150 religiöse Führerinnen und Führer, politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, staatliche Akteure sowie Menschenrechtsvertreterinnen und -vertreter nach Wien ein, um Möglichkeiten zur Erkennung und Bekämpfung von Hassrede zu diskutieren. Erst vor wenigen Wochen befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von KAICIIDs „hochrangigem Dialog über sozialen Zusammenhalt“ in Lissabon ebenfalls mit der zunehmenden Bedrohung durch Hassrede und der Notwendigkeit verstärkter Zusammenarbeit in Europa.

Bekämpfung von Hassrede nach Beratung mit Experten

Anfang des Jahres hat das Internationale Dialogzentrum gemeinsam mit dem Europäischen Rat der Religionsführer und dem OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) ein ehrgeiziges Projekt präsentiert, um einige der Faktoren aufzudecken, die im Internet und in der Öffentlichkeit zu Angriffen auf religiöse und andere Minderheitengruppen führen.

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Das Projekt, das im Rahmen der neuen KAICIID-Initiative „Sozialer Zusammenhalt“ in Europa entstanden ist, soll erforschen, wie interreligiöse, interkulturelle und bereichsübergreifende Zusammenarbeit auf dem gesamten Kontinent erfolgreich angewendet werden kann, um die Verbreitung von Hassrede zu verhindern. Religiösen Akteurinnen und Akteuren sollen Instrumente für den Kapazitätsaufbau zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich dem Problem widmen und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt fördern können.

„Hassrede bekämpfen“ wurde im April 2021 mit einer von KAICIID organisierten Fachkonsultation eingeleitet, an der Expertinnen und Experten teilnahmen, die über Erfahrungen im Umgang mit Hassrede vor Ort verfügen. Später untersuchte eine europaweite Umfrage unter religiösen Führerinnen und Führern, interreligiösen Organisationen sowie Religionsexpertinnen und -experten die Auswirkungen von Hassrede. Die Ergebnisse wurden in vier regionalen europäischen Konsultationen gesammelt, an denen 46 Religionsführerinnen und -führer und religiöse Gruppierungen aus über 15 Ländern teilnahmen, darunter Österreich, das Vereinigte Königreich, Spanien, Schweden und Polen.

Die Umfrage lieferte wichtige Erkenntnisse aus verschiedenen Glaubensrichtungen, darunter waren 38 Prozent muslimische, 32 Prozent christliche und 21 Prozent jüdische Fachleute.

Einige der befragten Personen wiesen darauf hin, wie wichtig es ist, zu verstehen, welche Rolle Hassrede in Online- und Offline-Gesprächen in ganz Europa spielt.

Wipf: „Wir brauchen ein umfassenderes Verständnis für die verschiedenen Bereiche von Hassrede“

„Wir brauchen ein umfassenderes Verständnis der verschiedenen Bereiche von Hassrede in der Politik, im Nationalismus, im Populismus und auch in Bezug auf LGBT-Personen, sagt Pfarrer Thomas Wipf, Präsident des Europäischen Interreligiösen Rates religiöser Führer (ECRL) / Religions for Peace, der an der Erstellung der Umfrage beteiligt war.

Pfarrer Wipf weiter: „Die Motivation, Menschen zusammenzubringen, ihnen bewusst zu machen, was in versteckter Form in den sozialen Medien oder auf der Straße passiert, darf nicht vergessen machen, dass es in den meisten europäischen Ländern eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens gibt, des Verständnisses zwischen verschiedenen Ethnien, Sprachen und Kulturen und Religionen sowie zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen.“

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Reverend Thomas Wipf, President of ECRL/RfP Europe speaking at the 3rd European Policy Dialogue Forum in Lisbon (Photo: Nuno Patricio/KAICIID)

Die Ergebnisse der Umfrage zeigen auch, dass Hassrede während der Pandemie zugenommen hat. Elf der befragten Organisationen und Personen gaben an, dass dies ein „sehr großes“ Problem für ihre Gemeinschaften darstellt. Darüber hinaus gab die überwiegende Mehrheit der Befragten an, dass sie oder ihre Gemeinschaften von Hassrede betroffen waren, wobei 22 Personen oder Organisationen angaben, dass sowohl Männer als auch Frauen zur Zielscheibe wurden.

„Hassrede ist leider ein bedeutendes Thema in Europa, vor allem in Zeiten der Migrationskrise und dem Aufkommen rechter Bewegungen in einigen Teilen des Kontinents“, erklärt Lejla Hasandedic-Dapo, Referentin der United Religions Initiative, einem globalen interreligiösen Basisnetzwerk, das Frieden und Gerechtigkeit fördert, indem es Menschen dazu bringt, religiöse und kulturelle Unterschiede zu überwinden.

„Hassrede war während der Pandemie besonders in Online-Medien präsent, weil alle zu Hause saßen und viel freie Zeit zur Verfügung hatten, die sie früher nicht hatten. Leider haben viele Menschen diese Gelegenheit genutzt, um Hassrede zu verbreiten. Wir glauben auch, dass Jugendliche davon betroffen sind und sie Hassrede manchmal auch aufgrund von Stereotypen verbreiten“, führt Hasandedic-Dapo aus.

Hassrede: Ein häufiges Phänomen in allen Glaubensgemeinschaften

Die Ergebnisse zeigen, dass Hassrede leider in allen Glaubensgemeinschaften verbreitet ist. 51 Prozent der Befragten gaben an, zu wissen, dass Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft Hassrede gegen andere Menschen und Gruppen verwenden. Zu den Ursachen gehören historische Auseinandersetzungen, Islamophobie, Stereotypen, Rassismus und negative Medienberichterstattung.

Nach der Auswertung der KAICIID-Umfrage wurden vier regionale Konsultationen in ganz Europa abgehalten, um die Ergebnisse zu diskutieren. 46 religiöse Akteurinnen und Akteure, darunter Glaubensvertreterinnen und -vertreter, Jugendaktivistinnen und -aktivisten sowie KAICIID Fellows, nahmen daran teil, um ihre Erfahrungen mit Hassrede zu teilen und die Maßnahmen zu erörtern, die sie als nützlich erachtet haben, um deren Auswirkungen zu bekämpfen. Die Konsultationen zeigten viele Gründe für die Verbreitung von Hassrede auf, darunter Angst und Unsicherheit, Fake News und aufstachelnde Äußerungen, die von Personen des öffentlichen Lebens wie Politikerinnen und Politikern stammen.

Mitrović: „Jedes Thema wird zu etwas gemacht, das zu Polarisierung führt“

Vertreterinnen und Vertreter von Organisationen, die an der Umfrage teilnahmen, gaben an, dass Hassrede in ihren Regionen zugenommen hat. „Wir befassten uns nicht sehr viel mit Hassrede. Es war ein Phänomen, dessen wir uns bewusst waren, aber es wirkte sich nicht wirklich auf unsere Aktivitäten aus und wir gingen auch nicht direkt darauf ein“, berichtet Igor Mitrović, Direktor von ADRA Serbien, einer in Belgrad ansässigen Hilfsorganisation.

Mitrović sagt, ein Großteil der Hassrede in Serbien passiere im Internet und enthalte rassistische oder auf die Hautfarbe bezogene Beschimpfungen.

„Teile unserer Gemeinschaft sind Flüchtlingen oder Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten gegenüber nicht aufgeschlossen. Wir wollten mitteilen, was wir in diesem Teil Europas sehen“, so Mitrović.

Er wies auf die Rolle sozialer Medien hin, was die Verbreitung von Hassrede angeht. „Jedes Thema wird zu etwas gemacht, das Polarisierung und negative Emotionen hervorruft. Migration ist eines davon, aber es gibt so viele weitere Brennpunkte.“

Pfarrer Wipf bekräftigte die Notwendigkeit, dass Priester, Imame und andere religiöse Führerinnen und Führer Schulungen erhalten, wie sie die Auswirkungen von Hass im Netz bekämpfen können.

„Wir können das nicht während der Sonntagsgottesdienste oder Freitagsgebete machen, wir brauchen andere Konzepte dafür.“