Ende des Jahres 2019 erlebte Ägypten ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum. Ausländische Direktinvestitionen wurden wieder angekurbelt, die Baubranche boomte und der Tourismus war im Aufwind. Doch innerhalb weniger Monate kamen der internationale Reiseverkehr und der wirtschaftliche Aufschwung aufgrund einer globalen Pandemie zum Erliegen.
Ägypten steht aber möglicherweise vor einer noch größeren Herausforderung als dem Coronavirus. Wie die meisten Länder der Region steckt das Land in einer ernsten demografischen Krise, die die Stabilität und den wirtschaftlichen Aufschwung Ägyptens gefährdet.
Fast die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt, doch die Mehrheit der jungen Menschen ist ohne Arbeit und hat keinen Zugang zu guter formaler Bildung. Viele fühlen sich entrechtet und sind nicht in der Lage, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Die Situation hat sich im letzten Jahr nur noch verschlimmert, als junge Menschen durch Lockdowns und die Maßnahmen der sozialen Distanzierung isoliert wurden.
Da die Frustration in Verzweiflung umgeschlagen ist, hat die ägyptische Mediterranean Youth Foundation (MYF) eine neue Initiative ins Leben gerufen, die von KAICIID unterstützt. Sie versucht, das große Potential Ägyptens zu nutzen und junge Menschen als die Speerspitze von Frieden und Stabilität zu sehen.
„Junge Menschen in der Region stehen vor vier großen Herausforderungen“, so Edwar Hanna, KAICIID-Programmmanager für die arabische Region. „Das Vorurteil, dass sie zu jung und unerfahren sind; ein Mangel an Anerkennung für ihre Arbeit als Changemaker; unzureichende Beteiligung an der Friedenskonsolidierung und Konfliktlösung sowie das Fehlen von echter Vertretung, die sicherstellt, dass ihre Stimmen und Bedürfnisse gehört werden.“
Mit Hilfe von KAICIID versuchen junge Führungskräfte von MYF, dies zu ändern. Ein wegweisendes Dokument soll ihnen bei der Erreichung dieses Ziels helfen. Es ist bekannt als die „Erklärung der Geschwisterlichkeit aller Menschen“ oder die „Erklärung von Abu Dhabi“.
Die historische Vereinbarung wurde vor genau zwei Jahren von Papst Franziskus und dem Großimam von Al Azhar, Dr. Ahmed El-Tayyeb, unterzeichnet. Sie soll ein „Leitfaden für zukünftige Generationen“ sein, der die Beziehungen zwischen christlichen und muslimischen Gemeinschaften stärkt und den Frieden auf allen Ebenen der Gesellschaft fördert.
Der Präsident der Mediterranean Youth Foundation, Youssef Aroog, hofft, dass die Erklärung jungen Menschen hilft, ihre Träume von einer friedlichen Gesellschaft, die auf Toleranz und Chancengleichheit basiert, in die Realität umzusetzen.
„Die arabische Welt sehnt sich nach Frieden“, so Aroog. „Vor fünf Jahren unterstützte unsere Organisation als erste die Resolution 2250 der Vereinten Nationen, die junge Menschen dazu ermutigt, mehr Mitspracherecht in Fragen des Friedens und der Sicherheit zu fordern. Mit unserem neuen Dialogprojekt zeigen wir Jugendlichen die Bedeutung der Erklärung der Geschwisterlichkeit aller Menschen auf und helfen ihnen, ihre Ziele durch Initiativen von und für junge Menschen zu erreichen.“
Laut Rihanna Hamed, einem Mitglied der MYF-Arbeitsgruppe, ist die Erklärung immens wichtig für die Region, in der „Gewalt, Extremismus, Intoleranz und Terror tief verwurzelt sind. Wir leben in einer Zeit, in der wir menschliche Werte über unsere persönlichen Interessen stellen müssen.“
MYFs Initiative findet im Rahmen von KAICIIDs "Dialogue 60"-Projekt statt, das im Oktober 2020 gestartet wurde und 60 Organisationen in 15 arabischen Ländern durch finanzielle Zuschüsse und Beratung bei der Projektumsetzung vor Ort unterstützt. Die Projekte konzentrieren sich auf drei Themen: Prävention von Hassrede, Reaktion auf COVID-19 und, wie das Projekt von MYF, die Förderung der gemeinsamen Bürgerschaft durch Dialog.
Jede Initiative wird von der regionalen Plattform des Zentrums, der Interreligiösen Plattform für Dialog und Zusammenarbeit in der arabischen Welt (IPDC), unterstützt, die sich für die Erklärung der Geschwisterlichkeit aller Menschen stark macht.
In den vergangenen Monaten hat MYF mehrere Schulungen zu Themen wie Friedensförderung, Konfliktlösung, Dialogvermittlung und Projektmanagement veranstaltet. Bislang haben 79 junge Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren bei dem Projekt mitgemacht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus ganz Ägypten und repräsentieren verschiedene religiöse Zugehörigkeiten und ethnische Hintergründe.
Laut Hamed war das größte Hindernis, mit dem das Projekt konfrontiert wurde, die Coronavirus-Pandemie. MYF war gezwungen, sich schnell an die veränderten Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen anzupassen. Die Organisation hat daher einen hybriden Ansatz für die Sitzungen gewählt. Wenn es die jeweils aktuellen Richtlinien zur sozialen Distanzierung erlauben, finden physische Treffen statt, ansonsten werden Online-Sitzungen abgehalten.
Positiven und nachhaltigen Wandel herbeiführen
An den Schulungen und Workshops nahmen Expertinnen und Experten aus verschiedenen ägyptischen Ministerien, Universitäten und religiösen Einrichtungen teil. Vertreterinnen und Vertreter des Jugendministeriums waren bei allen Sitzungen anwesend.
Das Königreich Bahrain zeichnete MYF letzten Monat mit einem Preis für seine Bemühungen aus, junge Führungskräfte auszubilden, die nachhaltigen, positiven Wandel herbeiführen und zum Frieden in der Region beitragen sollen.
Aroog ist trotz der überwältigenden Unterstützung entschlossen, sicherzustellen, dass das MYF-Projekt über die Theorie hinausgeht und Initiativen außerhalb der Schulungsräumlichkeiten ermöglicht.
Er betrachtet das letzte Segment des Projekts als das womöglich wichtigste. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde nach dem Training für Projektmanagement in Gruppen eingeteilt und hatten die Aufgabe, eine gemeinsame Initiative zu entwickeln, die auf den Prinzipien der menschlichen Geschwisterlichkeit basiert.
Eine der Gruppen hat große Fortschritte gemacht und einer Jugendeinrichtung einen Vorschlag unterbreitet. Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren sollen in den Grundlagen von Frieden, Dialog und Geschwisterlichkeit geschult werden. Die Gruppenmitglieder arbeiten an Unterrichtsplänen, die kreative Lernwerkzeuge und Kunstprojekte einsetzen werden.
Aroog hat die Gruppen bei jedem Schritt unterstützt, indem er sein großes interreligiöses Netzwerk nutzte, um Sponsoren zu finden. KAICIID hat regelmäßig Mentorinnen und Mentoren sowie Unterstützung bei der Mobilisierung von Ressourcen, für Monitoring und Projektevaluierung bereitgestellt. Wenn die Jugendeinrichtung Erfolg hat, wollen Aroog und sein Team das Projekt auch in anderen Städten Ägyptens wiederholen. Sie werden sicherstellen, dass junge Menschen mit der Durchführung betraut sind.
Für KAICIID ist diese Art der Nachhaltigkeit das Herzstück des "Dialogue 60"-Projekts. „Es ist das erste Jahr, in dem wir uns entschieden haben, das Projekt in vollem Umfang zu betreuen und zu leiten“, berichtet Hanna. „Wir sind nicht nur hier, um finanzielle Mittel bereitzustellen. Wir wollen Partnerorganisationen finden und Netzwerke aufbauen. Wir vermitteln ihnen die nötigen Fähigkeiten, um gemeinschaftlich geführte Initiativen vor Ort zu unterstützen und auf Situationen und Krisen zu reagieren, wie es externe Organisationen nicht können.“
MYF zeigt sich ermutigt durch die Resonanz und die Begeisterung der jungen Menschen, die endlich einen Ort haben, an dem sie ihr Potential ausschöpfen können.
„Unser Ziel war es, eine positive Veränderung im gesamten Mittelmeerraum herbeizuführen. Wir sind begeistert zu sehen, wie junge Menschen andere junge Menschen ermächtigen“, so Aroog.
Der Internationale Tag der Geschwisterlichkeit aller Menschen
Am 4. Februar 2019 unterzeichneten Papst Franziskus und der Großimam von Al Azhar, Dr. Ahmed El-Tayyeb, ein historisches Dokument mit dem Titel „Erklärung der Geschwisterlichkeit aller Menschen“, das den Dialog zwischen Christentum und Islam sowie die Zusammenarbeit zwischen den Religionen fördern soll.
Im August 2019 trafen einander Seine Exzellenz Kardinal Miguel Ángel Ayuso Guixot, Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog und Mitglied des KAICIID-Direktoriums, Richter Muhammad Abd al-Salam, Generalsekretär des Höheren Komitees für menschliche Brüderlichkeit, und UN-Generalsekretär António Guterres, um über einen Welttag der Geschwisterlichkeit aller Menschen zu sprechen, der an diese wegweisende Vereinbarung erinnern sollte.
Im Dezember 2020 trugen ihre Bemühungen schließlich Früchte. Die offizielle Resolution, die von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten vorgeschlagen worden war, wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Konsens angenommen. Der 4. Februar wurde zum „Internationalen Tag der Geschwisterlichkeit aller Menschen“ erklärt. Die Resolution würdigte außerdem „den wertvollen Beitrag von Menschen aller Religionen oder Glaubensrichtungen für die Menschheit und den Beitrag, den Dialog zwischen allen religiösen Gruppen für ein besseres Bewusstsein und Verständnis der gemeinsamen Werte der gesamten Menschheit leistet“.